Sara hat als Kind die sogenannte Festhaltetherapie erlebt – ihre Mutter hat sie damit be- bzw. misshandelt. Es dauerte Jahre, bis sie mit der Hilfe von Freund*innen und einer Psychotherapeutin das Trauma verarbeitet hat. Heute ist sie 31 und kann es nicht fassen, dass die Festhaltetherapie nach wie vor angeboten, praktiziert und gelehrt wird – ausgerechnet auch in Wien, wo Sara wohnt. Sie fordert die strafrechtliche Verfolgung von sogenannten „Festhaltetherapeut*innen“. Im Interview schildert sie außerdem, wie es sich anfühlte, gebrochen zu werden und welches Verhältnis sie heute zu ihrer Mutter hat:
Oli: Wie hast du die Festhaltetherapie
erlebt?
Sara: Es ist
meine schrecklichste Erinnerung. Oder sind meine schrecklichsten Erinnerungen,
ist ja leider Plural. Man braucht sich eigentlich nur die Anleitungen
durchlesen, dann ist alles klar. Ich wurde gegen meinen Willen festgehalten, am
Boden bzw. am Bett fixiert, sodass ich mich nicht bewegen konnte und dass ich
nichts an meinem Körper bewegen konnte. Das war besonders schrecklich, weil ich
immer dann „festgehalten“ wurde, wenn es mir sowieso schon schlecht ging und
ich Heulkrämpfe hatte. Zuerst hab ich immer versucht mich zu befreien. Das war
ziemlich aussichtslos, weil ich natürlich sehr klein war. Ich weiß nicht wie
alt genau, ich schätze Kindergartenalter bis frühes Volksschulalter. Da ich
mich nicht befreien konnte, habe ich versucht ihr wehzutun und hab sie
gekratzt, gezwickt, gebissen, so gut es ging.
Ich habe immer
noch dieses seltsame Lächeln im Kopf, dieses Lächeln, wie sie ignorierte, was
ich mache und dass ich sauer bin und dass da gerade eine Auseinandersetzung ist
und dass mir da gerade Gewalt angetan wird. Sie faselte mit einer ganz weichen
und lieben Stimme was von „Liebe“ oder „ich hab dich lieb“, irgendwas von
„Sicherheit“ und „Halt geben“. Den genauen Wortlaut habe ich nicht mehr im
Kopf, aber es ging in die Richtung „Ich hab dich lieb auch wenn du wütend bist“
oder so. Das einzige, was mir hin und wieder eine kurze Erleichterung
verschafft hat, war wenn ich keine Luft mehr bekommen hab. Wenn ich gesagt hab,
ich krieg keine Luft, dann hat sie manchmal kurz lockerer gelassen. Aber nur um
anzutesten ob ich die Chance sofort nutze, sie wieder zu schlagen. Was ich
meistens auch gemacht hab, sofern ich noch nicht völlig erschöpft war. Das war
dann so ein Kreislauf an festhalten, wehren, ich krieg keine Luft – ich hab
auch oft wirklich keine mehr gekriegt – und wieder jede Gelegenheit nutzen, sie
zu kratzen, zu beißen, zu treten. Sie hat mich aufs Klo gehen lassen, was
erschreckenderweise nicht der Anleitung entspricht. Der Anleitung nach hätte
sie mich zwingen müssen, mich anzupinkeln. Aber das bedeutete nur eine kleine Pause,
danach ging es sofort weiter. Das alles ging sehr lange – so lange, bis ich
völlig erschöpft war. Nicht nur körperlich, sondern auch und vor allem
psychisch. Ich war so erschöpft, dass ich nicht einmal mehr hassen konnte. Das
ist ein ganz seltsames Gefühl der Niederlage, wenn es so schlimm ist, dass es
einem am Ende einfach egal ist. Du kannst einfach nicht mehr und du willst auch
nicht mehr. Auf eine gewisse Art auch erleichternd, aber eine Erleichterung aus
völliger Niederlage.
Oli: Wie war das speziell für dich,
diesen Widerspruch wahrzunehmen: Einerseits quasi liebevolle Worte gesagt zu
bekommen, aber gleichzeitig diese körperliche Gewalterfahrung zu machen?
Sara: Ich kann
mich nicht erinnern, dass ich das als Kind reflektiert hätte. Erst viel später
habe ich gemerkt, dass ich sehr aggressiv reagiere, wenn ich etwas
Unfreundliches sage oder grantig bin und meine Mutter mich nur freundlich
anlächelt. Dann hatte ich richtig unerklärliche Aggressionen gegen sie.
Oli: Wobei die so unerklärlich ja nicht sind
mit dem Hintergrund.
Sara: Ja. Das
war als Teenager. Damals habe ich das noch nicht miteinander in Verbindung
gebracht.
Oli: Wie ist deine Mutter überhaupt
darauf gekommen, das „Festhalten“ bei dir anzuwenden?
Sara: Ich
denke, dass meine Mutter das gemacht hat oder auf die Idee gekommen ist, weil
ich ein sehr sensibles Kind war und oft geweint hab und mich nicht beruhigen
konnte und oft so viel geweint hab, dass ich keine Luft mehr bekommen hab. Sie
wusste nicht wie sie damit umgehen sollte und ist dann auf das Buch gestoßen,
vermutlich von Prekop…und hat dann gedacht, dass das eine gute Idee ist, das
nach dieser Anleitung durchzuführen. Als Therapie für meine Heulkrämpfe.
Oli: Wie lange ging das Ganze insgesamt?
Also wann und warum hat es aufgehört?
Sara: Daten und
Fakten sind schwierig als kleines Kind. Ich weiß, dass es über einen längeren
Zeitraum gegangen ist. Ich muss schon älter als drei oder vier Jahre gewesen
sein, wegen meinem kleinen Bruder. Ich kann es auch insofern eingrenzen, dass
es mit acht Jahren vorbei war. In dem Alter hab ich ihr das zum ersten Mal
vorgeworfen und da war das schon eine Weile vorbei. Schlimm war für mich auch,
dass sie das mit meinem kleinen Bruder auch gemacht hat und ich dabei zusehen
musste. Ich habe meine Mutter aus vollem Leib angeschrieben und unter Tränen
angebettelt, dass sie damit aufhören soll. Das hat absolut nichts gebracht. Es
war, als würde ich es selbst wieder erleben, weil die Aussichtslosigkeit und
diese völlige Machtlosigkeit die gleiche war.
Ich habe erst
viel später von meiner Mutter im Gespräch erfahren, dass diese Reaktion sehr
wohl einen Einfluss hatte. Dass ich es auch dann schlimm fand, wenn ich selbst
nicht direkt betroffen war und dass ich meinen Bruder beschützen wollte, hat
sie zum Nachdenken und schließlich zum Aufhören gebracht.
Oli: In dem Standard-Artikel aus dem
Jahr 2013 steht, dass du mit 14 eine Psychotherapeutin aufgesucht hast, die dir
dann auch geholfen hat, das alles zu verarbeiten. Hast du sie konkret wegen der
Erfahrung mit der Festhaltetherapie aufgesucht oder war das aus einem anderen
Grund und ihr seid dann auch auf die Festhaltetherapie gestoßen?
Sara: Ich habe
mit 14 bemerkt, dass es mir nicht gut geht. Ich wusste aber nicht, was der
Grund war. Ich habe in der Schule Probleme gehabt, obwohl ich sonst sehr gut
war. Also Probleme, die über die „normale“ Pubertät hinausgehen. Ich bin mit
Kleinigkeiten nicht zurechtgekommen, in der Schule habe ich mich eingesperrt
gefühlt. Nach einer Schullandwoche hatte ich eine sehr schlimme depressive
Phase mit Suizidgedanken. Eine Freundin hat mir die Adresse von einer
Psychotherapeutin gegeben. Ich hatte großes Glück, mit ihr habe ich mich sofort
gut verstanden. Ich will nicht behaupten, dass meine Probleme zu hundert
Prozent auf die Festhaltetherapie zurückzuführen sind, aber rückblickend
betrachtet hatte sie sicher einen großen Anteil daran.
Oli: Wie kann man sich das vorstellen,
so eine Erfahrung wie die Festhaltetherapie therapeutisch aufzuarbeiten?
Sara: Ein
großer Teil war, mich überhaupt wieder daran zu erinnern. Da es mir so schlecht
ging, habe ich vermutet, dass ich als Kind vielleicht traumatische Erlebnisse
hatte. Aber die Festhaltetherapie ist mir da zunächst nicht eingefallen. Ich
hatte es nicht vergessen: Hätte mich jemand gefragt, ob mir die
Festhaltetherapie angetan wurde, hätte ich sofort ja gesagt. Ich habe es nur
nicht damit in Verbindung gebracht. Ich hatte die typischen Klischees im Kopf,
wie sexuellen Missbrauch oder Schlagen oder Eltern mit Alkoholproblemen – aber
in diese Richtung gab es nichts. Erst nach längerer Zeit, als ich schon
wirklich Vertrauen zu der Therapeutin hatte, ist mir das mit der
Festhaltetherapie eingefallen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie das war,
als ich zum ersten Mal darüber gesprochen habe. Man muss dazu wissen, dass ich
außer den depressiven Phasen auch manchmal dissoziative Zustände hatte, also
zum Beispiel manchmal das Gefühl hatte, dass meine Hände nicht zu mir gehören,
obwohl ich sie gerade angeschaut habe. Ich bin also auf dem Sofa gesessen und
habe zum ersten Mal über die Festhaltetherapie gesprochen – und der Raum hat
sich verdunkelt. Das war ganz surreal. Also es war nicht stockfinster, aber
leicht verdunkelt. Wie eine Art Tunnelblick und alles drumherum verschwimmt.
Durch diese
Intensität, wie es sich anfühlte darüber zu sprechen, war für mich sofort klar,
dass das für mich etwas sehr Schlimmes und Traumatisches war. Andere
unangenehme Erinnerungen haben nie so eine Reaktion ausgelöst. Es hat lange
gedauert, bis das besser geworden ist. Wenn ich jetzt so ausführlich darüber
spreche und nachdenke, merke ich wie mein Puls ansteigt und wie ich wütend
werde, aber nichts davon ist mehr dissoziativ, nichts davon ist mehr so
surreal. Aber ich habe noch sehr lange immer wieder Nächte gehabt, in ich wach
gelegen bin und vor Wut hyperventiliert hab. Da hat mich nicht nur meine
Therapeutin, sondern auch mein damaliger Freund sehr stark aufgefangen. Das war
die Arbeit nicht nur von mir, sondern von vielen sehr lieben Menschen, die mich
unterstützt haben.
Oli: Was hat dir am meisten geholfen,
das zu verarbeiten?
Sara: Ich weiß
nicht, ob ich das so sagen kann. Ich habe versucht, mit meiner Mutter darüber
zu reden. Das hat es nicht wirklich besser gemacht. Ich hatte nicht das Gefühl,
dass sie wirklich Verantwortung dafür übernommen hat. Ich kann mir vorstellen,
dass das für andere Situationen oder für andere Betroffene, für andere Kinder,
für andere Eltern anders ist, wenn der Fokus auf der Empathie und dem Mitgefühl
mit den Opfern liegt und die Täter und Täterinnen wirklich die Verantwortung
dafür übernehmen, was sie gemacht haben. Meine Mutter hat schon verstanden,
dass das falsch und schlecht war. Aber sie hat sich in erster Linie
gerechtfertigt oder lang und breit „erklärt“, warum sie das gemacht hat. Das
mag interessant sein, aber darauf sollte der Fokus nicht liegen.
Was viel später
geholfen hat, war den Kontakt zu meiner Mutter abzubrechen. Es hat geholfen,
mir selbst zu versprechen, dass ich das nicht verzeihen werde. Ich hab sehr
lang gedacht, dass es für mich wichtig wäre, mich mit meiner Mutter
auszusöhnen. Für mich war das aber nicht das Richtige. Mir ging es erst
wirklich gut, als ich beschlossen oder mir eingestanden habe, dass ich das
nicht verzeihen kann und auch nicht verzeihen sollte.
Oli: Hast du die Kontaktsperre bis heute
aufrechterhalten?
Sara: Ja, ich
habe bis heute keinen Kontakt zu meiner Mutter.
Oli: Kannst du noch irgendwelche
Auswirkungen festmachen, die dich immer noch im Alltag einschränken?
Sara: Ich habe
wirklich den Großteil hinter mir. Die schwierigste Arbeit war als Teenager und
als sehr junge Erwachsene. Das mit dem nicht verzeihen und Kontakt abbrechen
kam eigentlich sehr spät. Der Großteil der Arbeit brauchte viel Zeit
Unterstützung. Ich bin inzwischen 31. Ich reagiere manchmal immer noch heftig,
wenn ich das Gefühl habe, dass ignoriert wird, wenn ich sauer bin, also dass
jemand extra freundlich zu mir ist, obwohl es gerade einen Konflikt gibt. Und
ich bin vermutlich sensibler als andere, wenn ich das Gefühl habe, in meiner
Freiheit oder in meinen Bewegungen eingeschränkt zu werden. Ich ertrage es zum
Beispiel nicht, wenn ich unter einer Bettdecke liege und jemand legt
irgendeinen Körperteil auf die Bettdecke drauf. Dann fühl ich mich sofort
eingesperrt und krieg Panik. Aber das ist eben eine Eigenheit, die man an mir
kennen muss und dann macht man das einfach nicht.
Oli: Hast du eigentlich irgendwann mal
was davon mitbekommen, dass es in Wien, also in der Stadt in der du lebst,
einen Verein gibt, der diese Methode ganz offen propagiert?
Sara: Erst vor
kurzem. Ich habe lange eher einen Bogen um das Thema gemacht. Ich habe zu der
Zeit, als ich das wirklich intensiv aufgearbeitet hab, Sachen darüber gelesen
und weiß auch seither ungefähr, was in diesen Büchern drinsteht. Es war für
mich meist unnötig belastend, mich länger und intensiver damit
auseinanderzusetzen. Ich hab lange nur Texte von Kritikern lesen können, weil
es für mich extrem belastend war, die Rechtfertigungen derjenigen zu lesen, die
das propagieren. Wenn ich Menschen davon erzählt habe, was mir angetan wurde,
hab ich mir auch immer sehr schwer getan, diese Begründungen wiederzugeben. Ich
weiß zwar, wie sie es begründen, aber es ist schlimm für mich, das
auszusprechen. Videos davon kann ich mir auch nicht anschauen.
Oli: Was sollte deiner Meinung nach
passieren? Gerade auch im Hinblick darauf, dass es immer noch Leute gibt, die
es propagieren, die es anbieten, die neue Festhaltetherapeuten ausbilden? Etwa
der Verein „Herz und Halt“ in Wien.
Sara: Nachdem
die Anwendung der Festhaltetherapie – Therapie ist es ja keine, es ist Folter –
nachdem die Anwendung dieser Methode mehrere Straftatbestände erfüllt, ist es
für mich völlig unlogisch, dass es möglich ist, Menschen zu Straftaten
auszubilden. Die Ausbildung zu Straftaten muss doch genauso illegal sein wie
die Durchführung der Straftaten. Insofern sollte alles was in diese Richtung
geht, einfach strafrechtlich verfolgt werden. Organisationen, die nachweislich
die Festhaltetherapie propagieren, durchführen oder lehren, gehören verboten. Dass
Menschen so etwas machen, wird man nicht verhindern können. Aber ich finde es
wichtig, dass klar gemacht wird, dass es kriminelle Handlungen sind. Damit auch
keine leichtgläubigen oder verzweifelten Eltern mehr in die Irre geführt werden
können und dazu gebracht werden können, das für eine gute Methode zu halten.
Genauso wie alle wissen, dass Drogenhandel illegal ist, müssen auch alle
wissen, dass diese Methoden illegal sind. Dass sie etwas Kriminelles machen,
wenn sie es tun.
Oli: Gibt es noch irgendwas, was du
anderen Betroffenen mit auf den Weg geben möchtest?
Sara: Ich
glaube nicht, dass ich Betroffenen so viel zu sagen habe außer: Nicht aufgeben,
Hilfe suchen, kritisch bleiben. Da muss jeder seinen eigenen Weg finden.
Verschiedene Menschen können ganz unterschiedlich auf sowas reagieren. Was ich
betont habe, etwa das Freiheitsbedürfnis, war zum Beispiel nicht meine erste
Reaktion darauf. Das kam erst später. Davor hatte ich eher ein
Nicht-Vorhandensein von Grenzen, also dass ich sehr große Probleme hatte mich
abzugrenzen. Wir sollten nicht von einer bestimmten Verhaltensweise aus
verallgemeinern. Manche haben vielleicht extreme Probleme mit Nähe und
körperlichen Berührungen. Aber es kann dir auch so vorkommen, dass du überhaupt
keine Probleme damit hast und in Wahrheit lässt du vielleicht zu viel Nähe zu.
Ich konnte anfangs gar nicht wahrnehmen und artikulieren, wenn mir etwas
unangenehm oder zu nah war. Das hatte ich ja sehr effizient abtrainiert
bekommen. Heftig ist auch die Bestrafung dafür, Kampfgeist zu zeigen. Wir
müssen erst lernen, dass es okay ist, wütend zu sein und dass das nicht
automatisch zur Niederlage führt. Dass es okay ist, entspannt zu sein und dass
das nicht heißt, dass dich zuvor jemand besiegt hat.
Falls ihr
Unterstützung braucht, würde es mich freuen, wenn ihr mich kontaktiert. Wichtig
finde ich, dass die Festhaltetherapie nicht mehr stattfindet und dass
diejenigen, die Opfer wurden, die Ressourcen bekommen, um ihr Vermögen sich
abzugrenzen, ihr Gefühl von Sicherheit und ihren Kampfgeist zurück zu bekommen.
Oli: Wir wären jetzt von meiner Seite
aus fertig. Es sei denn du hast noch etwas Wichtiges, das wir bisher nicht
angesprochen haben…
Sara: Ja, an
die Eltern: Macht so was nicht! Und wer etwas aus dem Umfeld mitbekommt, sollte
aktiv werden. Leider fühlt sich bei sowas meistens niemand dafür zuständig.
Aber wenn es, wie bei der Festhaltetherapie, nicht einfach um Erziehungsfragen
geht, sondern um grausame Misshandlung, dann dürfen und müssen wir uns
einmischen.
Kontakt zu Sara: sarastopptdiefesthaltetherapie[at]gmail.com