Dienstag, 28. August 2018

Betroffene fordert umfassendes Festhaltetherapie-Verbot


Sara hat als Kind die sogenannte Festhaltetherapie erlebt – ihre Mutter hat sie damit be- bzw. misshandelt. Es dauerte Jahre, bis sie mit der Hilfe von Freund*innen und einer Psychotherapeutin das Trauma verarbeitet hat. Heute ist sie 31 und kann es nicht fassen, dass die Festhaltetherapie nach wie vor angeboten, praktiziert und gelehrt wird – ausgerechnet auch in Wien, wo Sara wohnt. Sie fordert die strafrechtliche Verfolgung von sogenannten „Festhaltetherapeut*innen“. Im Interview schildert sie außerdem, wie es sich anfühlte, gebrochen zu werden und welches Verhältnis sie heute zu ihrer Mutter hat:


Oli: Wie hast du die Festhaltetherapie erlebt?

Sara: Es ist meine schrecklichste Erinnerung. Oder sind meine schrecklichsten Erinnerungen, ist ja leider Plural. Man braucht sich eigentlich nur die Anleitungen durchlesen, dann ist alles klar. Ich wurde gegen meinen Willen festgehalten, am Boden bzw. am Bett fixiert, sodass ich mich nicht bewegen konnte und dass ich nichts an meinem Körper bewegen konnte. Das war besonders schrecklich, weil ich immer dann „festgehalten“ wurde, wenn es mir sowieso schon schlecht ging und ich Heulkrämpfe hatte. Zuerst hab ich immer versucht mich zu befreien. Das war ziemlich aussichtslos, weil ich natürlich sehr klein war. Ich weiß nicht wie alt genau, ich schätze Kindergartenalter bis frühes Volksschulalter. Da ich mich nicht befreien konnte, habe ich versucht ihr wehzutun und hab sie gekratzt, gezwickt, gebissen, so gut es ging.

Ich habe immer noch dieses seltsame Lächeln im Kopf, dieses Lächeln, wie sie ignorierte, was ich mache und dass ich sauer bin und dass da gerade eine Auseinandersetzung ist und dass mir da gerade Gewalt angetan wird. Sie faselte mit einer ganz weichen und lieben Stimme was von „Liebe“ oder „ich hab dich lieb“, irgendwas von „Sicherheit“ und „Halt geben“. Den genauen Wortlaut habe ich nicht mehr im Kopf, aber es ging in die Richtung „Ich hab dich lieb auch wenn du wütend bist“ oder so. Das einzige, was mir hin und wieder eine kurze Erleichterung verschafft hat, war wenn ich keine Luft mehr bekommen hab. Wenn ich gesagt hab, ich krieg keine Luft, dann hat sie manchmal kurz lockerer gelassen. Aber nur um anzutesten ob ich die Chance sofort nutze, sie wieder zu schlagen. Was ich meistens auch gemacht hab, sofern ich noch nicht völlig erschöpft war. Das war dann so ein Kreislauf an festhalten, wehren, ich krieg keine Luft – ich hab auch oft wirklich keine mehr gekriegt – und wieder jede Gelegenheit nutzen, sie zu kratzen, zu beißen, zu treten. Sie hat mich aufs Klo gehen lassen, was erschreckenderweise nicht der Anleitung entspricht. Der Anleitung nach hätte sie mich zwingen müssen, mich anzupinkeln. Aber das bedeutete nur eine kleine Pause, danach ging es sofort weiter. Das alles ging sehr lange – so lange, bis ich völlig erschöpft war. Nicht nur körperlich, sondern auch und vor allem psychisch. Ich war so erschöpft, dass ich nicht einmal mehr hassen konnte. Das ist ein ganz seltsames Gefühl der Niederlage, wenn es so schlimm ist, dass es einem am Ende einfach egal ist. Du kannst einfach nicht mehr und du willst auch nicht mehr. Auf eine gewisse Art auch erleichternd, aber eine Erleichterung aus völliger Niederlage.

Oli: Wie war das speziell für dich, diesen Widerspruch wahrzunehmen: Einerseits quasi liebevolle Worte gesagt zu bekommen, aber gleichzeitig diese körperliche Gewalterfahrung zu machen?

Sara: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das als Kind reflektiert hätte. Erst viel später habe ich gemerkt, dass ich sehr aggressiv reagiere, wenn ich etwas Unfreundliches sage oder grantig bin und meine Mutter mich nur freundlich anlächelt. Dann hatte ich richtig unerklärliche Aggressionen gegen sie.

Oli: Wobei die so unerklärlich ja nicht sind mit dem Hintergrund.

Sara: Ja. Das war als Teenager. Damals habe ich das noch nicht miteinander in Verbindung gebracht.

Oli: Wie ist deine Mutter überhaupt darauf gekommen, das „Festhalten“ bei dir anzuwenden?

Sara: Ich denke, dass meine Mutter das gemacht hat oder auf die Idee gekommen ist, weil ich ein sehr sensibles Kind war und oft geweint hab und mich nicht beruhigen konnte und oft so viel geweint hab, dass ich keine Luft mehr bekommen hab. Sie wusste nicht wie sie damit umgehen sollte und ist dann auf das Buch gestoßen, vermutlich von Prekop…und hat dann gedacht, dass das eine gute Idee ist, das nach dieser Anleitung durchzuführen. Als Therapie für meine Heulkrämpfe.

Oli: Wie lange ging das Ganze insgesamt? Also wann und warum hat es aufgehört?

Sara: Daten und Fakten sind schwierig als kleines Kind. Ich weiß, dass es über einen längeren Zeitraum gegangen ist. Ich muss schon älter als drei oder vier Jahre gewesen sein, wegen meinem kleinen Bruder. Ich kann es auch insofern eingrenzen, dass es mit acht Jahren vorbei war. In dem Alter hab ich ihr das zum ersten Mal vorgeworfen und da war das schon eine Weile vorbei. Schlimm war für mich auch, dass sie das mit meinem kleinen Bruder auch gemacht hat und ich dabei zusehen musste. Ich habe meine Mutter aus vollem Leib angeschrieben und unter Tränen angebettelt, dass sie damit aufhören soll. Das hat absolut nichts gebracht. Es war, als würde ich es selbst wieder erleben, weil die Aussichtslosigkeit und diese völlige Machtlosigkeit die gleiche war.

Ich habe erst viel später von meiner Mutter im Gespräch erfahren, dass diese Reaktion sehr wohl einen Einfluss hatte. Dass ich es auch dann schlimm fand, wenn ich selbst nicht direkt betroffen war und dass ich meinen Bruder beschützen wollte, hat sie zum Nachdenken und schließlich zum Aufhören gebracht.

Oli: In dem Standard-Artikel aus dem Jahr 2013 steht, dass du mit 14 eine Psychotherapeutin aufgesucht hast, die dir dann auch geholfen hat, das alles zu verarbeiten. Hast du sie konkret wegen der Erfahrung mit der Festhaltetherapie aufgesucht oder war das aus einem anderen Grund und ihr seid dann auch auf die Festhaltetherapie gestoßen?

Sara: Ich habe mit 14 bemerkt, dass es mir nicht gut geht. Ich wusste aber nicht, was der Grund war. Ich habe in der Schule Probleme gehabt, obwohl ich sonst sehr gut war. Also Probleme, die über die „normale“ Pubertät hinausgehen. Ich bin mit Kleinigkeiten nicht zurechtgekommen, in der Schule habe ich mich eingesperrt gefühlt. Nach einer Schullandwoche hatte ich eine sehr schlimme depressive Phase mit Suizidgedanken. Eine Freundin hat mir die Adresse von einer Psychotherapeutin gegeben. Ich hatte großes Glück, mit ihr habe ich mich sofort gut verstanden. Ich will nicht behaupten, dass meine Probleme zu hundert Prozent auf die Festhaltetherapie zurückzuführen sind, aber rückblickend betrachtet hatte sie sicher einen großen Anteil daran.

Oli: Wie kann man sich das vorstellen, so eine Erfahrung wie die Festhaltetherapie therapeutisch aufzuarbeiten?

Sara: Ein großer Teil war, mich überhaupt wieder daran zu erinnern. Da es mir so schlecht ging, habe ich vermutet, dass ich als Kind vielleicht traumatische Erlebnisse hatte. Aber die Festhaltetherapie ist mir da zunächst nicht eingefallen. Ich hatte es nicht vergessen: Hätte mich jemand gefragt, ob mir die Festhaltetherapie angetan wurde, hätte ich sofort ja gesagt. Ich habe es nur nicht damit in Verbindung gebracht. Ich hatte die typischen Klischees im Kopf, wie sexuellen Missbrauch oder Schlagen oder Eltern mit Alkoholproblemen – aber in diese Richtung gab es nichts. Erst nach längerer Zeit, als ich schon wirklich Vertrauen zu der Therapeutin hatte, ist mir das mit der Festhaltetherapie eingefallen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie das war, als ich zum ersten Mal darüber gesprochen habe. Man muss dazu wissen, dass ich außer den depressiven Phasen auch manchmal dissoziative Zustände hatte, also zum Beispiel manchmal das Gefühl hatte, dass meine Hände nicht zu mir gehören, obwohl ich sie gerade angeschaut habe. Ich bin also auf dem Sofa gesessen und habe zum ersten Mal über die Festhaltetherapie gesprochen – und der Raum hat sich verdunkelt. Das war ganz surreal. Also es war nicht stockfinster, aber leicht verdunkelt. Wie eine Art Tunnelblick und alles drumherum verschwimmt. 

Durch diese Intensität, wie es sich anfühlte darüber zu sprechen, war für mich sofort klar, dass das für mich etwas sehr Schlimmes und Traumatisches war. Andere unangenehme Erinnerungen haben nie so eine Reaktion ausgelöst. Es hat lange gedauert, bis das besser geworden ist. Wenn ich jetzt so ausführlich darüber spreche und nachdenke, merke ich wie mein Puls ansteigt und wie ich wütend werde, aber nichts davon ist mehr dissoziativ, nichts davon ist mehr so surreal. Aber ich habe noch sehr lange immer wieder Nächte gehabt, in ich wach gelegen bin und vor Wut hyperventiliert hab. Da hat mich nicht nur meine Therapeutin, sondern auch mein damaliger Freund sehr stark aufgefangen. Das war die Arbeit nicht nur von mir, sondern von vielen sehr lieben Menschen, die mich unterstützt haben. 

Oli: Was hat dir am meisten geholfen, das zu verarbeiten?

Sara: Ich weiß nicht, ob ich das so sagen kann. Ich habe versucht, mit meiner Mutter darüber zu reden. Das hat es nicht wirklich besser gemacht. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie wirklich Verantwortung dafür übernommen hat. Ich kann mir vorstellen, dass das für andere Situationen oder für andere Betroffene, für andere Kinder, für andere Eltern anders ist, wenn der Fokus auf der Empathie und dem Mitgefühl mit den Opfern liegt und die Täter und Täterinnen wirklich die Verantwortung dafür übernehmen, was sie gemacht haben. Meine Mutter hat schon verstanden, dass das falsch und schlecht war. Aber sie hat sich in erster Linie gerechtfertigt oder lang und breit „erklärt“, warum sie das gemacht hat. Das mag interessant sein, aber darauf sollte der Fokus nicht liegen.

Was viel später geholfen hat, war den Kontakt zu meiner Mutter abzubrechen. Es hat geholfen, mir selbst zu versprechen, dass ich das nicht verzeihen werde. Ich hab sehr lang gedacht, dass es für mich wichtig wäre, mich mit meiner Mutter auszusöhnen. Für mich war das aber nicht das Richtige. Mir ging es erst wirklich gut, als ich beschlossen oder mir eingestanden habe, dass ich das nicht verzeihen kann und auch nicht verzeihen sollte.

Oli: Hast du die Kontaktsperre bis heute aufrechterhalten?

Sara: Ja, ich habe bis heute keinen Kontakt zu meiner Mutter.

Oli: Kannst du noch irgendwelche Auswirkungen festmachen, die dich immer noch im Alltag einschränken?

Sara: Ich habe wirklich den Großteil hinter mir. Die schwierigste Arbeit war als Teenager und als sehr junge Erwachsene. Das mit dem nicht verzeihen und Kontakt abbrechen kam eigentlich sehr spät. Der Großteil der Arbeit brauchte viel Zeit Unterstützung. Ich bin inzwischen 31. Ich reagiere manchmal immer noch heftig, wenn ich das Gefühl habe, dass ignoriert wird, wenn ich sauer bin, also dass jemand extra freundlich zu mir ist, obwohl es gerade einen Konflikt gibt. Und ich bin vermutlich sensibler als andere, wenn ich das Gefühl habe, in meiner Freiheit oder in meinen Bewegungen eingeschränkt zu werden. Ich ertrage es zum Beispiel nicht, wenn ich unter einer Bettdecke liege und jemand legt irgendeinen Körperteil auf die Bettdecke drauf. Dann fühl ich mich sofort eingesperrt und krieg Panik. Aber das ist eben eine Eigenheit, die man an mir kennen muss und dann macht man das einfach nicht.

Oli: Hast du eigentlich irgendwann mal was davon mitbekommen, dass es in Wien, also in der Stadt in der du lebst, einen Verein gibt, der diese Methode ganz offen propagiert?

Sara: Erst vor kurzem. Ich habe lange eher einen Bogen um das Thema gemacht. Ich habe zu der Zeit, als ich das wirklich intensiv aufgearbeitet hab, Sachen darüber gelesen und weiß auch seither ungefähr, was in diesen Büchern drinsteht. Es war für mich meist unnötig belastend, mich länger und intensiver damit auseinanderzusetzen. Ich hab lange nur Texte von Kritikern lesen können, weil es für mich extrem belastend war, die Rechtfertigungen derjenigen zu lesen, die das propagieren. Wenn ich Menschen davon erzählt habe, was mir angetan wurde, hab ich mir auch immer sehr schwer getan, diese Begründungen wiederzugeben. Ich weiß zwar, wie sie es begründen, aber es ist schlimm für mich, das auszusprechen. Videos davon kann ich mir auch nicht anschauen.

Oli: Was sollte deiner Meinung nach passieren? Gerade auch im Hinblick darauf, dass es immer noch Leute gibt, die es propagieren, die es anbieten, die neue Festhaltetherapeuten ausbilden? Etwa der Verein „Herz und Halt“ in Wien.

Sara: Nachdem die Anwendung der Festhaltetherapie – Therapie ist es ja keine, es ist Folter – nachdem die Anwendung dieser Methode mehrere Straftatbestände erfüllt, ist es für mich völlig unlogisch, dass es möglich ist, Menschen zu Straftaten auszubilden. Die Ausbildung zu Straftaten muss doch genauso illegal sein wie die Durchführung der Straftaten. Insofern sollte alles was in diese Richtung geht, einfach strafrechtlich verfolgt werden. Organisationen, die nachweislich die Festhaltetherapie propagieren, durchführen oder lehren, gehören verboten. Dass Menschen so etwas machen, wird man nicht verhindern können. Aber ich finde es wichtig, dass klar gemacht wird, dass es kriminelle Handlungen sind. Damit auch keine leichtgläubigen oder verzweifelten Eltern mehr in die Irre geführt werden können und dazu gebracht werden können, das für eine gute Methode zu halten. Genauso wie alle wissen, dass Drogenhandel illegal ist, müssen auch alle wissen, dass diese Methoden illegal sind. Dass sie etwas Kriminelles machen, wenn sie es tun.

Oli: Gibt es noch irgendwas, was du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben möchtest?

Sara: Ich glaube nicht, dass ich Betroffenen so viel zu sagen habe außer: Nicht aufgeben, Hilfe suchen, kritisch bleiben. Da muss jeder seinen eigenen Weg finden. Verschiedene Menschen können ganz unterschiedlich auf sowas reagieren. Was ich betont habe, etwa das Freiheitsbedürfnis, war zum Beispiel nicht meine erste Reaktion darauf. Das kam erst später. Davor hatte ich eher ein Nicht-Vorhandensein von Grenzen, also dass ich sehr große Probleme hatte mich abzugrenzen. Wir sollten nicht von einer bestimmten Verhaltensweise aus verallgemeinern. Manche haben vielleicht extreme Probleme mit Nähe und körperlichen Berührungen. Aber es kann dir auch so vorkommen, dass du überhaupt keine Probleme damit hast und in Wahrheit lässt du vielleicht zu viel Nähe zu. Ich konnte anfangs gar nicht wahrnehmen und artikulieren, wenn mir etwas unangenehm oder zu nah war. Das hatte ich ja sehr effizient abtrainiert bekommen. Heftig ist auch die Bestrafung dafür, Kampfgeist zu zeigen. Wir müssen erst lernen, dass es okay ist, wütend zu sein und dass das nicht automatisch zur Niederlage führt. Dass es okay ist, entspannt zu sein und dass das nicht heißt, dass dich zuvor jemand besiegt hat.
Falls ihr Unterstützung braucht, würde es mich freuen, wenn ihr mich kontaktiert. Wichtig finde ich, dass die Festhaltetherapie nicht mehr stattfindet und dass diejenigen, die Opfer wurden, die Ressourcen bekommen, um ihr Vermögen sich abzugrenzen, ihr Gefühl von Sicherheit und ihren Kampfgeist zurück zu bekommen.

Oli: Wir wären jetzt von meiner Seite aus fertig. Es sei denn du hast noch etwas Wichtiges, das wir bisher nicht angesprochen haben…

Sara: Ja, an die Eltern: Macht so was nicht! Und wer etwas aus dem Umfeld mitbekommt, sollte aktiv werden. Leider fühlt sich bei sowas meistens niemand dafür zuständig. Aber wenn es, wie bei der Festhaltetherapie, nicht einfach um Erziehungsfragen geht, sondern um grausame Misshandlung, dann dürfen und müssen wir uns einmischen.


Kontakt zu Sara: sarastopptdiefesthaltetherapie[at]gmail.com