Samstag, 27. Oktober 2018

Dokumentarfilm "Elternschule": Kinder durch Isolation gefügig gemacht

Wundertherapie oder Kindesmisshandlung? Der Dokumentarfilm "Elternschule" von Jörg Adolph und Ralf Bücheler erhitzt bereits seit seinem Erscheinen am 11. Oktober 2018 die Gemüter. Einige Medien loben die Methoden der Gelsenkirchender Kinderklinik. Eltern, Ärzt*innen und der Deutsche Kinderschutzbund sind entsetzt. Eine Online-Petition fordert die Absetzung des Films und die Überprüfung der vermeintlich therapeutischen Methode. Die Argumentation der Befürworter*innen kam mir unangenehm vertraut vor. Da es schwierig ist, nur auf der Basis von Presseartikeln und hitzigen Facebook-Debatten einen Film zu kritisieren, habe ich ihn mir selbst angeschaut.

Gleich zu Beginn des Films wird klar: Die Eltern, die mit ihren Kindern die Abteilung "Pädiatrische Psychosomatik" der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen aufsuchen, sind verzweifelt. Eine Mutter spricht sogar davon, dass sie in der Behandlung nun die allerletzte Chance für ihr Kind sieht. Wenn das nicht funktioniere, müsste sie das Kind ins Heim geben. Der sprichwörtliche Griff nach dem letzten Strohhalm also - eine Situation, in denen viele Menschen anfällig für Manipulation und autoritäre Konzepte sind.

Nahrungsentzug als Sanktion

"Das Kind muss körperlich erleben, was Führung heißt", wird den Eltern - es sind ausschließlich Mütter - erklärt. Das sieht zum Beispiel so aus: Dietmar Langer, leitender Therapeut, nimmt ein kleines Mädchen bei der Hand und joggt los. Sie will nicht, er zieht sie einfach hinter sich her. Bald weint sie und klagt über Seitenstechen. Langers Reaktion? Egal! Er zwingt sie - "körperlich erlebbar" - zum Weiterrennen. Nahrungsentzug ist für die Gelsenkirchener Kinderklinik wohl eine legitime Sanktion. So wird einem Kind, das seine Gabel runterwirft, einfach das Essen weggenommen. Alles betteln hilft nichts: Es gibt erst wieder bei der nächsten Mahlzeit was. Wann das Kind Hunger oder Durst hat, ist nicht von Belang. Gegessen und getrunken wird, wenn die Erwachsenen es befehlen: Ein Mädchen sitzt einer Beschäftigten der Klinik - mutmaßlich der Stationsleiterin - gegenüber. Vor dem Mädchen stehen ein Teller mit Essen und ein Becher mit Wasser. Nach einiger Zeit isst das Kind einen Happen und greift dann zum Becher, um zu trinken. Die Pflegerin nimmt dem Kind den Becher weg.

Isolation als Therapie

Ein Highlight der Station: Die "Mäuseburg". In diesem Raum sollen die Kinder, so heißt es, "spielen womit sie wollen". Die Kinder werden von den Müttern in die Mäuseburg geführt, und dann alleine gelassen - plötzlich, ohne jede Vorwarnung. Die meisten Kinder beginnen verweifelt zu weinen und zu schreien oder kauern sich am Boden zusammen. Ein Junge ist wohl noch nicht verzweifelt genug, die Pflegerin nimmt ihm sein Spielzeug weg. Nun weint auch er. So sieht das selbstbestimmte Spielen in der Mäuseburg aus.
Bildquelle: Screenshot aus Trailer.
Doch nicht nur tagsüber werden die Kinder von den Eltern isoliert. Nachts werden sie in Gitterbetten in einen kameraüberwachten Raum geschoben. Die Mütter verabschieden sich und lassen die Kinder zurück. Egal, was nun passiert: Das Kind wird allein gelassen. Wir erfahren, dass ein Mädchen nach zwei Wochen nächtlicher Isolation nun nachts Ruhe gibt.

Immer wieder müssen die Mütter gegen ihr Gewissen ankämpfen. Einige Väter reagieren empört, als sie von den Methoden erfahren. Einer spricht von "Quälerei", wie eine Pflegerin berichtet. Die klare Botschaft der leitenden Ärzte: Der Vater hat hier nichts zu melden, dem werden sie noch schon zeigen, wo es lang geht.

Feindbild Kind: Parallelen zur NS-Pädagogik

Kinder ab dem Säuglingsalter werden als fiese Strategen dargestellt. Langer denkt die Eltern-Kind-Beziehung ausschließlich als Herrschaftsverhältnis. Entweder das Kind herrscht oder die Eltern. Die Herrschaft der Eltern über die Kinder (wieder-)herzustellen, ist das erklärte Ziel der ganzen Prozedur. Die Argumentation erinnert an Johanna Haarer, eine erfolgreiche Autorin von Erziehungsratgebern während der NS-Zeit. Auch bei ihr ist das Kind ein Feind, den es zu bezwingen gilt. So mahnte Haarer (1936): Wenn das Kind schreit und weint, "dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen." Die einstige "Gausachbearbeiterin für rassenpolitische Fragen" wäre heute wohl sehr zufrieden mit den Methoden der Kinderklinik Gelsenkirchen.

Ähnlich begründet auch Jirina Prekop ihre Festhaltetherapie. Nur die Methode unterscheidet sich: Bei Haarer und Langer ist es erzwungene Distanz, bei Prekop erzwungene Nähe. In beiden Fällen werden Kinder gewaltsam gebrochen und gefügig gemacht - zur Begeisterung von Therapeut*innen, Ärzt*innen und nun nicht mehr ganz so verzweifelten Eltern.

Massive Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Kinder

Die Methode von Langer ist ohne Wenn und Aber abzulehnen und zu unterbinden. Die Station gehört geschlossen und das beteiligte Personal entlassen und angeklagt. Doch was ist von der Forderung zu halten, die Ausstrahlung der Dokumentation zu beenden? Mit kritischem Journalismus, mit Aufklärung hat dieser Film nichts zu tun. Es handelt sich faktisch um Werbung für eine Methode, Kinder mit psychischer Gewalt gefügig zu machen. Zwar ist er insofern nützlich, als dass er erst die breite Kritik an den Methoden (unbeabsichtigt) ermöglicht hat. Jedoch werden durch die Dokumentation die betroffenen Kinder zusätzlich entwürdigt: Sie werden halbnackt, nur mit Windel bekleidet, in emotionalen Extremsituationen gezeigt. Schon die "Behandlung" selbst kann die Kinder traumatisieren. Nun kann es auch passieren, dass sie in einigen Jahren sich zufällig in der Doku wiedererkennen. Oder von Schulkamerad*innen, Kolleg*innen oder Bekannten angesprochen wird: "Hey, bist das nicht du da im Fernsehen? Das schreiende, schwer erziehbare Kind in der Windel?" Die beiden Filmemacher Adolph und Bücheler sind keine neutralen Beobachter, sondern Helfershelfer. Auf der Webseite zum Film verteidigen sie explizit den geschilderten "Therapie"-Ansatz und jammern wegen der scharfen Kritik im Internet. So sahen sie sich aufgrund eines unkontrollierbaren Shitstorms dazu gezwungen, ihre Facebookseite zu schließen. Von Einsicht oder auch nur dem Hauch einer kritisch-journalistischen Distanz keine Spur. Diese lässt auch die Süddeutsche Zeitung vermissen. Sie lobt die Filmemacher und die Klinik in den höchsten Tönen. Qualitätsjournalismus hieß mal: Investigativ recherchieren, aufdecken, aufklären. Bei der Süddeutschen heißt es in Bezug auf entwürdigende Be- bzw. Misshandlungspraktiken an Kindern eher: Gut, dass den Gören mal jemand zeigt wo es langgeht. Angesichts solcher "Qualitätsmedien" ist man mal froh, dass es so was wie Shitstorms gibt.

Eltern im Kino verteidigen Elternschule: "Schluss mit Wischiwaschi-Pädagogik"

Die Kinovorstellung in Stuttgart war mit 20 bis 25 Zuschauer*innen schwach besucht. Nach Vorstellungsende warnte eine Zuschauerin davor, die gezeigten Methoden auszuprobieren. Sie verwies auf die Stellungnahme des Kinderschutzbundes, der das Vorgehen von Langer und Co. als rechtswidrig einstuft. Einige anwesende Mütter sahen das anders: "Es muss endlich Schluss sein mit der Wischiwaschi-Pädagogik", war eine der Aussagen. Ansonsten viel schwammiges "Kinder brauchen Struktur"-Gerede. Eine Frau, nach eigenen Angaben Mutter und Psychologin, fand es "befremdlich, dass man kurz nach dem man den Film gesehen hat, gleich so negativ in die Diskussion einsteigt". Isolation als Haftbedingung wird völlig zurecht als Folter eingestuft. Doch für Kinder soll es eine geeignete Therapieform sein? Es geht hier nicht um pro und contra diese oder jene Therapie. Sondern es geht darum, ob Grundrechte auch für Kinder gelten.